Dieser Nachruf gedenkt an das Leben von Lorenzo Orsetti und Ahmed Hebeb, die in den letzten Tagen der Kämpfe gegen den Islamischen Staat im März 2019 getötet wurden. Weitere Hintergründe zu dem Konflikt findet ihr in diesem Artikel und in diesem Interview mit Tekoşîna Anarşîst.
Lorenzo Orsetti
Vor drei Jahren, am 18. März 2019, wurde mein Freund Lorenzo Orsetti bei der Schlacht von Baghuz Fawqani getötet. Er kämpfte mit den Syrischen Demokratischen Kräften gegen die letzte Bastion des Islamischen Staates in Syrien. Bevor noch mehr Zeit vergeht, möchte ich ein paar Worte zu seinem Gedenken sagen.
Lorenzo war ein Anarchist aus Florenz, Italien. Zum Zeitpunkt seines Todes waren er und ich Mitglieder von Tekoşîna Anarşîst, einer Gruppe internationaler Anarchist*innen, die sich an der Revolution im Nordosten Syriens, auch bekannt als Rojava, beteiligten.
Ich lernte Lorenzo an meinem ersten Tag in Syrien kennen und war in den letzten sechs Monaten seines Lebens fast jeden Tag bei ihm. Bis zu seinem Tod kannte ich weder seinen Geburtsnamen, noch wusste ich, woher er genau kam. Für mich war er Tekoşer Piling – das war sein nom de guerre. Das bedeutet »Kampftiger« auf Kurmandschi Kurdisch.
In gewisser Weise wussten Lorenzo und ich sehr wenig voneinander. In all der Zeit, die wir miteinander verbrachten, sprachen wir nur selten über unsere Gefühle, die Zukunft oder unser früheres Leben zuhause. Dennoch waren wir Kampfgefährten. Wir dienten in derselben Einheit, schliefen im selben Zimmer, trainierten und übten jeden Morgen zusammen, wechselten uns jeden Abend bei der Wache ab, teilten Hunderte von Mahlzeiten und Tausende von Tassen Tee, wechselten uns bei der Hausarbeit ab, räumten hintereinander auf und wurden zweimal gemeinsam an die Front geschickt, wo wir mehrere Feuergefechte überlebten und mehrmals nur knapp dem Tod entronnen waren. Ich habe Lorenzo mein Leben anvertraut, und er hat mich nie im Stich gelassen.
Was kann ich sagen, um Heval Tekoşer gerecht zu werden?
In erster Linie möchte ich sagen, dass Lorenzo ein mutiger Revolutionär sowohl in Aktion als auch aus Überzeugung war. Er ist nicht nach Rojava gekommen, um Geld zu verdienen, von der Großzügigkeit der Bewegung zu leben, oder im Internet berühmt zu werden. Er hat seine Pflicht als Internationalist ernst genommen. In den anderthalb Jahren, die er in Syrien diente, meldete er sich freiwillig für jeden möglichen Einsatz, von Afrin bis Deir Ezzor, von einem Ende des befreiten Gebiets zum anderen. Zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten kämpfte er mit den überwiegend kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), der türkischen kommunistischen Organisation TIKKO, arabischen Einheiten der Syrischen Demokratischen Kräfte, den Antifaschistischen Kräften in Afrin und Tekoşîna Anarşîst. Er hat nicht herumgealbert. Als er starb, war er ein erfahrener und weithin geachteter Veteran, der dafür bekannt war, als Erster in die Schusslinie zu geraten und als Letzter zu gehen. Ich selbst hatte angefangen zu glauben, dass Lorenzo kugelsicher ist – bis er es nicht mehr war.
Lorenzo war jedoch keineswegs ein eindimensionaler Glücksritter. Er liebte den Krieg nicht um seiner selbst willen. Er las und schrieb ständig. Er studierte Geschichte, Politik, Sprache, Theorie, Taktik und Strategie. Sein Kurmandschi war anständig und er lernte arabisch. Er wusste, wofür er kämpfte, und er glaubte wirklich an die Prinzipien der Autonomie, Ökologie und Frauenbefreiung, die wir in Rojava – wenn auch unvollkommen – in die Praxis umgesetzt sahen. Er lebte nach diesen Prinzipien und starb für sie.
Neben seinen beachtlichen Fähigkeiten als Freiheitskämpfer war Lorenzo auch ein rundum bemerkenswerter Mensch. Als gelernter Koch zauberte er regelmäßig köstliche Mahlzeiten aus einfachen Rationen. An Geburtstagen und zu besonderen Anlässen besorgte er bessere Zutaten und verbrachte Stunden damit, Gnocchi und köstliche Soßen zuzubereiten. Er sprach gut Englisch, wenn auch nicht gerade fließend, und würzte es mit fabelhaften Verballhornungen, italienischen Redensarten und merkwürdigen Redewendungen. Er konnte seinen Standpunkt in einer Besprechung mit brutaler Präzision deutlich machen und brauchte dafür nur halb so viele Wörter wie ein*e englische*r Muttersprachler*in. Er war aufbrausend, vergab schnell und konnte eine Salve haarsträubender Beleidigungen abfeuern, wenn er provoziert wurde, und den Vorfall innerhalb von Minuten wieder vergessen. Lorenzo liebte Hunde und besonders Welpen. Er hatte eine Vorliebe für schrägen Techno, Dschihad-_Nasheeds_ und den Song »Live By The Gun« von Waka Flocka Flame. Er war klein und stämmig, mit Tattoos übersät und ein Weltklasse-Meister des Videospiels »Warhammer 40.000: Dawn of War III«. Wenn es jemals einen Moment gab, in dem er nichts Wichtigeres zu tun hatte, konnte er sich in eine Decke einwickeln, sich auf dem Boden ausstrecken, sein Handy zücken und gegen die Orks von Tartarus kämpfen, was er – aus mir unerfindlichen Gründen – als »pumping my cannon« bezeichnete. Er war ein Original.
Viele meiner lebhaftesten Erinnerungen an Lorenzo und an Rojava im Allgemeinen drehen sich um Schlaf und den Mangel daran.1 In meinen Gedanken ist er die winzige Glut einer Zigarette, die aus der Dunkelheit auftaucht, lange ersehnt, um mich von meiner Position abzulösen und mir zu sagen, dass ich endlich schlafen kann. Şev baş, heval.
Lorenzo wurde am 18. März 2019 getötet, am letzten Tag der letzten Schlacht des letzten großen Einsatzes des Territorialkriegs gegen den Islamischen Staat im Irak und in Syrien. Ich war gerade von der Front in Baghuz Fawqani zurückgekehrt und err ist in der Nacht, in der ich von dort zurückkam, an die Front gegangen. Wir sagten serkeftin, umarmten uns, und das war’s. Innerhalb weniger Tage war Baghuz gefallen und Lorenzo war eine Legende und ein Märtyrer.
Drei Jahre sind nun vergangen. Ich führe mein Leben im Verborgenen, umgeben von meinen Lieben. Ich wünschte, Lorenzo hätte es aus Syrien nach Hause geschafft, so wie ich es tat. Ich wünschte, ich hätte seine Nummer in meinem Telefon und könnte seine Stimme wieder hören. Dennoch glaube ich, dass es in diesem Leben Dinge gibt, für die es sich zu sterben lohnt. Aus der Perspektive der Zivilgesellschaft von Rojava glaube ich nicht, dass man etwas anderes gegen ISIS hätte tun können, außer sie mit militärisch zu besiegen. Irgendjemand musste es tun. Lorenzo hat seinen Teil dazu beigetragen.2
Seinen Angehörigen in Florenz möchte ich sagen, dass auch ich mich auf meine Weise um Lorenzo gekümmert habe. Wie meine Freund*innen und ich in unserer ersten Erklärung nach seinem Tod sagten: »Ein Teil von uns ist mit ihm gestorben, und ein Teil von ihm lebt mit uns weiter.« Wir hoffen, dass ihr stolz auf ihn seid und dass ihr die Entscheidungen, die er getroffen hat, verstehen könnt. Ich überlasse den Leser*innen Lorenzos letzte Worte, die von seinen Freund*innen, – die am 18. März 2019 irgendwo in Nordsyrien um einen kahlen Tisch versammelt waren – für die Nachwelt übersetzt wurden. Ruhe gut, Heval.
Hallo.
Wenn du diese Nachricht liest, dann bedeutet das, dass ich nicht mehr auf dieser Welt bin. Ich bereue nichts und bin für das gestorben, was ich für richtig hielt: die Schwachen zu verteidigen und meinen Idealen von Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit treu zu bleiben.
Trotz meines vorzeitigen Ablebens war mein Leben also ein Erfolg, und ich bin mir fast sicher, dass ich mit einem Lächeln im Gesicht gegangen bin. Ich hätte mir nicht mehr wünschen können.
Ich wünsche euch allen das Beste auf der Welt und hoffe, dass auch ihr euch eines Tages entschließen werdet, euer Leben für andere zu geben (wenn ihr es nicht schon getan habt), denn nur so kann die Welt verändert werden.
Nur wenn wir den Individualismus und Egoismus in jedem von uns bekämpfen, können wir etwas bewirken. Ich weiß, dass dies schwierige Zeiten sind, aber gebt nicht der Verzweiflung nach, gebt niemals die Hoffnung auf, niemals! Nicht einmal für eine Sekunde.
Selbst wenn alles verloren scheint, wenn die Übel, die die Erde und die Menschheit plagen, unüberwindbar scheinen, müsst ihr Kraft finden, müsst ihr eure Gefährt*innen zur Kraft inspirieren.
Es sind die dunkelsten Momente, in denen wir euer Licht am meisten brauchen.
Und denkt immer daran, dass »jeder Sturm mit einem einzigen Regentropfen beginnt«. Ihr müsst dieser Regentropfen sein.
Ich liebe euch alle und hoffe, dass ihr diese Worte noch lange in Erinnerung behalten werdet.
Serkeftin!
Ⓐ
Orso,
Tekoşer,
Lorenzo.
Ahmed Hebeb
Lorenzo Orsetti fiel im Kampf Seite an Seite mit einem arabischen Kämpfer namens Ahmed Hebeb. Diejenigen von uns aus Tekoşîna Anarşîst kannten ihn als Rafiq Şamî. Es war kein Zufall, dass sie an diesem Tag zusammen waren. Lorenzo und Ahmed kannten sich gut von Lorenzos vorherigen vier Einsätzen in Deir Ezzor. Bei einer dieser Gelegenheiten zog sich Ahmed bis auf seine Boxershorts aus und zählte für uns von Kopf bis Fuß siebenundzwanzig verschiedene Wunden auf, die er im Laufe der Jahre im Kampf gegen den ISIS erlitten hatte. Lorenzo wollte immer dort sein, wo etwas los war, und Ahmed wusste immer, wo er es finden konnte. Sie starben gemeinsam im Kugelhagel, als sie einer Gruppe von Gefährt*innen, die sich angesichts eines verzweifelten Gegenangriffs des ISIS zurückziehen wollten, Feuerschutz gaben. Ahmed wurde enthauptet. Lorenzo wurde aus welchen Gründen auch immer nicht geköpft.
Bei Ahmeds şehid-Zeremonie halfen meine Freunde und ich, seinen Sarg zu tragen. Seine Freunde und seine Familie waren zunächst verwirrt, warum eine Gruppe von Ausländern an der Gedenkfeier für ihren geliebten Mann auftauchte. Mein Arabisch ist grauenhaft, aber ich rief auf meinem Handy Bilder auf, die Ahmed, Lorenzo und mich zusammen in der Wüste von Deir Ezzor zeigen. »Şamî!« Sagte ich. »Tekoşer! Heval! Rafiq! Şehid!«
Die Revolution in Rojava und der Krieg gegen ISIS in diesem Teil der Welt sind im Westen oft mit orientalistischen und islamfeindlichen Begriffen dargestellt worden – vor allem von Reaktionären, aber auch von einigen Linken und Anarchist*innen. Kurdische Menschen wurden fetischisiert und romantisiert – sie werden als ein Block dargestellt, als »die einzigen vernünftigen Menschen dort drüben«, während arabische Menschen entmenschlicht und als verrückte Terroristensympathisant*innen dargestellt werden.3
Das ist für mich besonders schmerzlich, weil – auch wenn ich nicht für andere Zeiten und Orte während des Krieges sprechen kann – die Realität dessen, was ich in Deir Ezzor im Winter 2018 bis 2019 gesehen habe, war, dass die überwältigende Mehrheit der Soldat*innen, die das schlimmste Leid erfuhren und starben, um ISIS von der Landkarte zu tilgen, sunnitische Araber*innen wie Ahmed waren. Bigotte und Dummköpfe können über Araber*innen und Menschen aus islamischen Gesellschaften im Allgemeinen sagen, was sie wollen, aber was ich gesehen habe, war, dass, als einige der niederträchtigsten DschihadistInnen der ganzen Welt im Nordosten Syriens zusammenkamen, um ein Programm der Vergewaltigung und des Genozids zu verfolgen, sehr viele sunnitische Araber*innen, darunter Ahmed Hebeb, zu den Waffen griffen, um sie aufzuhalten.
Ahmed gab sein Leben im Kampf gegen Menschen, die der Krieg verrückt gemacht hatte, diejenigen, die sich zu Feind*innen der gesamten Menschheit gemacht hatten. Viele dieser Leute waren Ahmeds eigene Landsleute, Menschen, die dieselbe Sprache sprachen und denselben Gott verehrten. Heute scheinen sich die Bedingungen, die Syrien in den Krieg gestürzt haben, auf die ganze Welt zu verallgemeinern. Die Befürworter*innen des neoliberalen Status quo erweisen sich als unfähig, eine Vision zu haben und Antworten zu finden. Während wir im so genannten Westen mit unseren eigenen Versionen von ISIS in diesem Zeitalter des aufsteigenden Ethno-Nationalismus rechnen, wird nur die Zeit zeigen, wie Viele guten Gewissens in christlichen Gesellschaften bereit sein werden, das zu tun, was Rafiq Şamî tat.
Im Namen von Tekoşîna Anarşîst möchte ich Ahmed und den zahllosen Menschen aus dem Nahen Osten, die wie er waren, sagen: Wir haben euch und die Lektionen, die ihr uns erteilt habt, nicht vergessen.
Im Geiste von Ahmed und Lorenzo,
Ein Anarchist.
Übersetzung von ABC Wien, von uns etwas korrigiert.
-
Lorenzo musste auf eine ganz besondere Art und Weise geweckt werden, ein Verfahren, welches ich schließlich beherrschte. Manche Gefährt*innen tricksen einen aus, wenn es darum geht, sie für den Wachdienst zu wecken, vor allem, wenn sie seit Monaten mit chronischem Schlafmangel zu kämpfen haben. Sie setzen sich auf und führen ein ganzes Gespräch mit dir. Aber sie sind nicht wirklich wach. Sobald du sie verlässt, legen sie sich wieder hin und schlafen ein, was deine Wache auf unbestimmte Zeit verlängert und dir die unbezahlbare Schlafzeit raubt. Du musst also darauf bestehen, du musst sie anspornen, bis sie aufstehen, bis sie in voller Rüstung sind, bis sie tatsächlich mit dir in Richtung ihres Postens gehen. Wehe dem, der versuchte, Lorenzo auf diese Weise zu wecken.
Ganz im Gegenteil, sobald man ein einziges Wort zu Lorenzo sprach, war er völlig wach. Er würde keinen Muskel bewegen, aber er würde einmal grunzen. Mit diesem Grunzen konnte man sicher sein, dass er genau zehn Minuten später auf seinem Posten sein würde, und zwar ganz sicher. Für ihn war es jedoch lebenswichtig, dass er diese zehn Minuten hatte, um vollkommen still zu liegen, in Ruhe eine Zigarette zu rauchen und sich an die schreckliche Tatsache zu gewöhnen, dass er nicht nur wach war, sondern auch aufstehen musste. Wenn man den Fehler machte, ihn in dieser Zeit weiter anzustupsen, hatte man es bald mit einem wütenden und schrecklich nörgelnden Italiener zu tun, wie ich später erfahren sollte.
Und doch konnte er zu jeder Tages- und Nachtzeit, wann immer irgendetwas wirklich alarmierend war, wie z. B. feindliches Feuer, merkwürdige Lichter, das Surren einer Drohne oder unvorhergesehene Explosionen, aus dem Tiefschlaf erwachen und sich mit der Geschwindigkeit eines Geparden in Position bringen. Darauf konnte man sich verlassen. ↩
-
Das bedeutet nicht, dass die militärische Niederlage von ISIS im Irak und in Syrien eines der Probleme gelöst hat, die ISIS überhaupt erst entstehen ließen. Das hat sie nicht. Abdullah Öcalan selbst hat einmal geschrieben: »Militärische Siege bringen keine Freiheit, sie bringen Sklaverei.« Meiner Beobachtung nach hatte er Recht. ↩
-
Tatsächlich ist die Revolution in Rojava kein ethnisch-nationalistisches, sondern ein ideologisches Projekt, wie praktisch jeder, der in der kurdischen Befreiungsbewegung involviert ist und den ich persönlich kenne, zustimmen würde. Keine der ethnischen oder religiösen Gruppen ist monolithisch. Es gibt Kurd*innen, die die Bewegung erbittert ablehnen, und Araber*innen, Assyrer*innen, Armenier*innen, Türk*innen und andere, die sich an ihr beteiligen. ↩