Seit dem 20. Oktober 2022 befindet sich der italienische Anarchist Alfredo Cospito im Hungerstreik und fordert ein Ende seiner Isolationshaft unter dem “41bis”-Regime. Am 3. Februar 2023 hatte er bereits 107 Tage ohne Nahrungsaufnahme verbracht.
Im Laufe der letzten dreieinhalb Monate verlor Alfredo mehr als 45kg. Bobby Sands, Mitglied der Irish Republican Army, der während seines Hungerstreiks im Jahr 1981 in das Parlament gewählt wurde, starb nach 66 Tagen ohne Nahrung. An der Schwelle zum Tod wurde Alfredo nun in eine medizinische Einrichtung verlegt. Sein Leben hängt am seidenen Faden.
Bereits durch das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt, zielt das 41bis-Regime darauf ab Gefangene von jeglichem menschlichen Kontakt zu isolieren. Abgesehen von einem monatlichen einstündigen Treffen mit Familienangehörigen – durch eine Glastrennwand, die einen physischen Kontakt verunmöglicht.
Ohne die Erlaubnis des Justizministeriums ist es Alfredo nicht einmal erlaubt, das Foto seiner verstorbenen Eltern an die Zellenwand zu heften. Er und mehrere hundert andere Gefangene in Italien sind in Zellen von wenigen Quadratmetern eingesperrt, ständigem sensorischem Sinnesentzug unterworfen und von allen Informationen der Außenwelt abgeschnitten. Die psychologischen Auswirkungen auf die Gefangenen sind schwerwiegend. Mit anderen Worten: sie sind lebendig begraben.
Ein Gefangener in Isolationshaft, der einem Leben im Gefängnis entgegenblickt, besitzt nur wenige Möglichkeiten um seine Menschenwürde zu behaupten. Sein Körper, eingesperrt zwischen Stahl und Beton, fern der Welt lebendiger Dinge, ist das letzte mögliche Schlachtfeld. Wir können über die Entscheidung, sein eigenes Leben in einer solchen Situation in die Waagschale zu werfen, nicht urteilen; wir können für einen Gefangenen nicht entscheiden, ob ein Leben unter solchen Bedingungen lebenswert ist. Aber wir schulden es uns selbst, ihn nicht in Vergessenheit sterben zu lassen.
Alfredos Streik kann nicht bloß als Versuch verstanden werden, an das Gewissen seiner Entführer*innen zu appellieren. Selbst in Europa sind die Tage, an denen Behörden so taten als ob sie sich um das Wohlergehen ihrer Untertanen sorgen lange vergangen. In Zeiten von COVID-19 sollte niemand mehr irgendwelche Illusionen darüber haben, wie Regierungen das Leben sehen; während die US-Regierung den Tod von Millionen Menschen duldet ohne zu erröten, während die russische Regierung ausdrücklich Verurteilte als Kanonenfutter an die Front schickt. Die kürzlich gewählten faschistischen Politiker*innen, die Italien regieren, haben keine Skrupel davor ganze Bevölkerungsgruppen dem Tod auszuliefern, ganz abgesehen davon einen einzelnen Anarchisten sterben zu lassen.
Alfredos Streik ist vielmehr eine Mahnung an uns über die Bedingungen, die für uns alle in einer zunehmend unmenschlichen Gesellschaft vorbereitet werden. Während es für die Mächtigen üblich wird das menschliche Leben als entbehrlich zu behandeln, ist sein Hungerstreik eine Warnung. Sofern du das Leben liebst, gibt es einige Bedingungen unter denen auch du möglicherweise gezwungen sein wirst, es zurückzuweisen.
Alfredos Situation spiegelt eine Warnung an uns alle wider. Wenn Umweltaktivist*innen für das bloße besetzen von Bäumen und posten in sozialen Medien zu Terrorist*innen erklärt werden, scheint es dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen, davon auszugehen, dass das was Alfredo heute angetan wird, morgen einer viel größeren Bandbreite an Inhaftierten angetan wird. Das 41bis-Regime wurde ursprünglich zur Isolation von Mafia-Bossen eingeführt, aber der wahre Zweck aller repressiven Gesetze ist es, diejenigen die regieren dazu zu befähigen, diejenigen über die sie regieren unterdrücken zu können. Denn niemand der heutigen Machthaber hat einen echten Plan, wie mit den Krisen umzugehen ist, die ökonomische Ungleichheiten und ökologische Katastrophen uns auferlegen. Ihre einzige Strategie – von Italien zu den Vereinigten Staaten bis China – ist es, bei Widerspruch immer gewalttätiger durchzugreifen.
Wir sollten Alfredos Schicksal mit unserem eigenen identifizieren. Solche ‘Gräber’ werden derzeit für uns gebaut, in Italien und überall auf der Welt. Für Alfredo zu kämpfen – oder, wenn es zu spät ist, ihn zu rächen – bedeutet, für uns selbst zu kämpfen, für unsere eigene Freiheit, gegen die unmenschlichen Regime, die uns eine*n nach dem anderen auslöschen werden, sei es durch begangene oder unterlassene Sünden. Sie werden uns weiter inhaftieren und töten, bis hin zu den Grenzen die wir ihnen durch kollektiven Widerstand setzen.
Groteskerweise versucht die italienische Regierung sich selbst als Opfer von Alfredos bevorstehendem Tod darzustellen. “Eine internationale anarchistische Kampagne wurde gegen Institutionen, sowie privates und öffentliches Eigentum in Italien und im Ausland orchestriert,” weint der italienische Außenminister Antonio Tajani, bei dem Versuch die Aufmerksamkeit von der Entscheidung Alfredo lebendig zu begraben abzulenken. “Der Staat darf sich nicht von denjenigen einschüchtern lassen, die auf die Idee kommen, seine Beamten zu bedrohen”, erklärt die Premierministerin Giorgia Meloni, eine bekennende Anhängerin von Benito Mussolini, während sie sich darauf vorbereitet Alfredos Tod zu feiern.
Wir müssen an dieser Stelle klarstellen: Die Vertreter*innen des italienischen Staates sind Mörder*innen, keine Opfer.
Hintergrund-Informationen zu den Gerichtsverfahren, die Alfredo Cospito ins Gefängnis gebracht haben, gibt es hier. Einige der Schriften, die Alfredos Entführer*innen als Rechtfertigung für seine Isolation nutzen sind hier zu finden. Es gab Solidaritäts-Statements und Aktionen auf drei Kontinenten, um Aufmerksamkeit für seinen Fall zu schaffen; Student*innen besetzen derzeit die Abteilung für Literatur an der Universität Sapienza in Rom in Solidarität mit Alfredo. Hier gibt es eine Unterstützungsseite.
Unten befindet sich noch eine deutsche Übersetzung eines Textes der italienischen Philosophin Donatella Di Cesare, welche sich kürzlich in guter Absicht mit anarchistischen Ideen auseinandergesetzt hat.
Lasst Alfredo frei – Es ist eine Frage der Gerechtigkeit
Dies ist ein Land, in dem viel über Menschenrechte gesprochen wird, wenn es um die Regierungen anderer Länder geht, ohne den Mut zu besitzen, einen Blick in die inländischen Gefängnisse zu werfen, ohne das Gewissen zu haben, die vielen Unterdrückungen anzuprangern die hier stattfindenden. In diesem Moment erleidet Alfredo Cospito einen sehr schwerwiegenden Missbrauch. Wer ist verantwortlich? Und wer muss zukünftig hierfür Antworten liefern? Der derzeitige Minister Carlo Nordio tut – obwohl er diese Maßnahme zurücknehmen könnte – nichts? Die Meloni-Regierung? Oder würde irgendeine feige Person es wagen dem Häftling, der zu diesem extremen Akt gezwungen wurde, die Schuld zuzuschieben? Die Überführung in das Opera Gefängniskrankenhaus ist in keiner Weise ausreichend, da es nur eine vorübergehende Linderung bedeutet.
Inzwischen ist klar, dass die Cospito-Affäre einen symbolischen und politischen Wert angenommen hat, der nicht unterschätzt werden kann. Die schuldhafte Untätigkeit dieser Regierung – die erste postfaschistische Regierung in Mussolinis Land (Es gibt viel zu vergeben!) – hat den schrecklichen Geschmack einer widerwärtigen Rache. Cospitos Körper wurde als Geisel genommen um Härte zu demonstrieren. Trotz all der Interpretationen von einheimischen Liberalen, die bereit sind ihnen Anerkennung zu geben, haben die Regierungsbeamt*innen keine Bedenken sich als engstirnige faschistische Gendarmen zu zeigen.
Vergesst die harte Linie! Vergesst die Erpressung! Es ist eigenartig, dass es sogar Richter*innen gibt, die diese Begriffe verwenden. In wessen Händen befinden wir uns? Hier sind die Bedingungen vollständig umgekehrt. Wir fordern, dass Cospito aus dem 41bis entlassen wird. In erster Linie aus einer Frage der Gerechtigkeit, aber insbesondere einer Frage der Menschlichkeit heraus. Es geht nicht nur darum ein Leben zu retten – obwohl diese Politik des Todes, diese Nekropolitik, uns den Wert des menschlichen Lebens völlig vergessen lässt. Aber der Punkt ist: Warum um alles in der Welt ist Cospito in 41bis? Was macht er dort? Diese Frage betrifft jede*n.
Lasst mich kurz rekapitulieren. Für die Verletzung eines Ansaldo-Führungsmitglieds wurde Cospito im Jahr 2013 zu zehn Jahren und 8 Monaten verurteilt. Während er bereits im Gefängnis saß, wurde ihm vorgeworfen, in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 2006, zwei Sprengsätze vor der Carabinieri Kadettenschule in Fossano platziert zu haben. Sprengsätze, die weder Tote noch Verletzte zur Folge hatten. Nach seiner Verurteilung wurde er in den Hochsicherheitstrakt gesteckt, in welchem die Gefangenen einer strengen Aufsicht mit starken Beschränkungen unterworfen werden. Von Zeit zu Zeit schickte Cospito einige Schriften an Publikationen aus dem anarchistischen Millieu.
Die darauf folgende Verlagerung ist das was diskutiert wird: Das Verbrechen wird von einem gewöhnlichen Verbrechen in ein politisches Verbrechen um gedeutet. Warum? Auf welcher Grundlage? Eine sonderbare Entscheidung, denn es gibt keine neuen Fakten. Nichtmal Capaci [ein Bombenanschlag der Mafia im Jahr 1992, bei welchem ein Richter, seine Frau und drei Polizei-Offiziere getötet wurden] oder der Anschlag auf der Piazza Fontana [ein rechtsextremer Bombenanschlag in Mailand, bei dem im Jahr 1969 17 Menschen getötet und 88 verwundet wurden] wurden als politische Anschläge bezeichnet. Aber in diesem Fall wird Cospito – gebilligt durch den früheren Minister [Marta] Cartabia – dem 41bis unterworfen.
Er landet in einer Art Grabkammer: Einen Meter und 52 Zentimeter breit und Zwei Meter und 52 Zentimeter lang. Dunkelheit, ausschließlich elektrisches Licht, lediglich ein Schimmern oben an der Wand. Die Zelle liegt unter dem Meeresspiegel im Sassari Gefängnis. Frischluft nur in einer ummauerten Kabine, die flüchtige Blicke in den Himmel nur durch Gitter gewährt. Isolation, Trennung, sogar die Beseitigung von Erinnerungen und Fotos von Familienangehörigen. Eine Art lebendig begraben zu werden, ausgeschlossen aus der menschlichen Gemeinschaft.
Dies geschieht im Italien des Jahres 2023. Ehrlich gesagt erscheint es nahezu grotesk an die Qualen der Inquisition zu erinnern. Wir wissen nur zu gut, dass Folter, ein schwarzer Phönix, dessen Praxis nie geendet hat, in den Demokratien des 21. Jahrhunderts neue Formen angenommen hat. Sollten wir einen Staat der foltert akzeptieren? Einen Staat der gegenüber dem Körper eines Gefangenen Gewalt anwendet? Denn es gibt viele Wege Gewalt auszuüben, auch ohne Spuren zu hinterlassen. Italien hat eine jüngere Historie die von Opfern von Polizeimissbrauch gepflastert ist. Es wäre nicht angemessen, nicht mal im Interesse der Republik, einen angekündigten Suizid mitzuerleben.
Abschließend möchte ich noch zwei Probleme ansprechen, von denen ich glaube, dass sie übersehen werden. Ich werde 41bis beiseite legen: Ich werde immer und für jede*n gegen dieses Regime sein (aber es würde einen weiteren Artikel benötigen um dies auszuführen). Das erste Problem betrifft das Konzept des Terrorismus, das gefährlich und schwammig ist. Wer ist ein*e Terrorist*in? Und wer entscheidet das? Wir wissen, wie all die im amerikanischen Kontext geschaffene Notstandsgesetzgebung, die auch in anderen europäischen Staaten existiert, die gewalttätige Fratze der Demokratie offenbart hat, indem sie Missbrauch aller Art, präventive Folter und extralegale Festnahmen produziert. Ein riskanter Pfad, der das Recht aller Bürger*innen unterminiert. Erzeugt Widerspruch einen Umsturz? Führt das veröffentlichen in einem anarchistischen Magazin dazu, als Terrorist*in betrachtet zu werden?
Das zweite Problem betrifft die Idee der Anarchie. Vielmehr als in anderen Staaten, besteht in Italien eine ambivalente Beziehung zu ihr. Auf der einen Seite haben wir Sacco und Vanzetti [die italienischen Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzentti wurden 1927 in den Vereinigten Staaten hingerichtet, was allgemein als Zerrbild der Gerechtigkeit empfunden wurde], nahezu Väter eines freien und anti-Mussolini Italiens, Vertreter der großartigen italienischen anarchistischen Tradition, ohne die es schwer wäre sich die heutige Geschichte des Landes vorzustellen. Auf der anderen Seite, Valpreda und die Bomben und die Versuchung die Anarchist*innen zu dämonisieren [Der italienische Anarchist und Schriftsteller Pietro Valpreda wurde für den Piazza Fontana Anschlag verantwortlich gemacht und ins Gefängnis gesteckt; als im Jahr 1987 die Tatsache, dass er nichts mit diesem Anschlag zu tun hatte allzu offensichtlich wurde, wurde er freigesprochen]. Auch hier hat Italien eine Menge Fragen zu beantworten. In diesen Stunden werden Versuche unternommen, Anarchist*innen entweder als Monster oder Dämonen darzustellen, Terrorist*innen die “unsere ausländischen Hauptquartiere” (!) bedrohen, im besten Falle Menschen, die Opfer eines “aus der Zeit gefallenen Glaubens” geworden sind. Groteske Vorstellungen, über die man lachen könnte, wenn sie nicht die anti-demokratischen Implikationen besäßen, die wir jetzt sehen können. Anarchistisches Denken, welches sich in den letzten Jahren als das philosophisch interessanteste und produktivste hervorgetan hat, ist ein Teil des heutigen kulturellen und politischen Kontextes. Und definitiv sind hier keine Vergleiche mit dem Faschismus und Post-Faschismus zu ziehen, welche stattdessen aus unserem kulturellen und politischen Kontext hätten ausgeschlossen werden sollen.
Kurzgesagt: Ist Cospito im 41bis, weil er Anarchist ist?
Hoffen wir, dass Minister Nordio, im Namen der italienischen Bürger*innen, bis zum 12. Februar interveniert und 41bis abschafft. Es ist bereits zu spät. Cospitos Leben, die Rechte von uns allen und diese Demokratie hängen davon ab.