In Brasilien hat Jair Bolsonaro, ein faschistischer Befürworter von Diktatur und Massenmorden, die Wahl gewonnen. Wer braucht einen Militärputsch, wenn du mit Wahlen exakt das Gleiche erreichen kannst?
Wir haben bereits detailliert untersucht, wie die linken und gemäßigten Parteien den Weg dafür ebneten. Von Brasilien bis Frankreich haben Parteien quer durch das politische Spektrum den Anspruch verloren, irgendeine andere Lösung für soziale Probleme anzubieten, als die Ausweitung staatlicher Gewalt. In einem solchen Kontext ist es nicht überraschend, dass Politiker*innen, die explizit die Polizei und das Militär repräsentieren, an die Macht kommen, da diese Institutionen zum Dreh- und Angelpunkt des Staates selbst geworden sind.
In Gedanken und Herzen sind wir bei unseren Gefährt*innen in Brasilien, die bereits eine unglaubliche Welle staatlicher Repression und kapitalistischer Gewalt erfahren haben und denen nun noch weit Schlimmeres bevorsteht.
Vielleicht kann der sofortige Widerstand, den die Wahl Donald Trumps hervorrief, als ein hilfreicher Referenzpunkt dienen.
Aber wegen der spezifischen Art auf die Brasilien kolonialistische Gewalt erfährt wird die Welle von Nationalismus, die in den USA und Europa bereits auf dem Weg zu ihrem Höhepunkt ist, dort möglicherweise noch brutaler ausfallen.
Wir rufen alle weltweit dazu auf, sich auf Solidaritätsaktionen vorzubereiten – mit jenen die im Fokus der von Bolsonaro angekündigten Angriffe stehen werden.
Als Anarchist*innen glauben wir nicht, dass Wahlen irgendeiner herrschenden Partei Legitimität verleihen. In unseren Augen könnte keine Wahl Polizeigewalt, Homophobie, Rassismus oder Frauenfeindlichkeit legitimieren; genausowenig wie Gefängnisse, Grenzen oder die Zerstörung der Umwelt (von der das Überleben aller abhängt).
Keine Stimmabgabe könnte irgendwen das Mandat dazu erteilen andere zu unterdrücken. Die Herrschaft der Mehrheit ist für uns so abscheulich wie die Diktatur: Beide machen Zwang zur fundamentalen Basis der Politik. Die wichtige Frage ist nicht, wie sich Demokratie verbessern lässt. Demokratie ist im Grunde ein Mittel Regierungen zu legitimieren, so dass Menschen akzeptieren, was ihnen aufgezwungen wird, ganz egal wie tyrannisch und unterdrückend das auch sein mag.
Die wichtige Frage ist wie wir uns gegen staatliche Gewalt verteidigen können; wie wir Wege finden können, unsere Bedürfnisse zu befriedigen ohne von Zwang oder Vereinnahmung abhängig zu sein; wie wir zusammenarbeiten und koexistieren können statt um Macht zu konkurrieren.
Angesichts von mehr und mehr Machtübernahmen durch unterdrückende Regime weltweit, müssen wir aufräumen mit unseren Illusionen »guter« demokratischer Regierungen und uns organisieren, um uns gemeinsam mit allen nötigen Mitteln zu verteidigen.
Das Gegenteil von Faschismus ist nicht Demokratie. Das Gegenteil von Faschismus ist Freiheit. Es ist Solidarität. Es ist direkte Aktion. Es ist Widerstand. Aber es ist nicht Demokratie. Demokratie war, wieder einmal, der Mechanismus, der Faschisten an die Macht brachte.
In den letzten Monaten haben neben der deutschen Übersetzung (from democracy to freedom – Der Unterschied zwischen Regierung und Selbstbestimmung) auch unsere Gefährt*innen aus Brasilien und Griechenland jeweils Übersetzungen von From Democracy to Freedom veröffentlicht. Dieses Buch enthält unsere Analyse der Gemeinsamkeiten von Demokratie und Diktatur.
Diese Übersetzungen findet ihr zur Sicherheit auch auf crimethinc.com, falls die Homepage der brasilianischen Gruppe unerwartet offline geht.
Außerdem hängen wir diesem Text das Nachwort der deutschen Ausgabe an. Wenn Ihr Lust habt, bei euch Veranstaltungen zu diesem Buch zu organisieren, meldet euch, wir kommen gerne zu euch. Hier unsere bisher feststehenden Veranstaltungen sowie eine Liste der vergangenen.
Um mehr darüber zu erfahren, warum die demokratischen Bewegungen 2010-2014 in eine Sackgasse geraten sind und so die Rechte in die Lage versetzten, ihre Rhetorik anzupassen und die Initiative zu ergreifen, empfehlen wir diese Analyse, die wir im Vorfeld der schwedischen Wahlen im letzten Monat veröffentlicht haben.
Nachwort der deutschen Ausgabe.
Wir haben vor Erscheinen dieses Buches gemeinsame Veranstaltungen mit Menschen aus den USA und Slowenien in Deutschland gemacht und in linken Zentren über Demokratie diskutiert. Dass sich keiner der vorliegenden Texte explizit mit der Situation und den Debatten in der BRD beschäftigt, bedeutet nicht, dass wir im hiesigen Kontext nicht ganz ähnliche Erfahrungen gesammelt hätten – im Gegenteil.
Der Staat:
Wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2017 fuhr ein Propagandamobil des Bundestages durch die Städte. Basecaps und Bonbons mit Bundesadler sowie Propagandafilme für Schüler*innen über Parlamentarismus wurden dort verteilt, die Veranstaltenden betonten, wie demokratisch dieses Land sei. Eine offensichtlich notwendige Werbeoffensive für ein System, das aus gutem Grund um die eigene Legitimation fürchtet.
Die Parteien:
Alle im Bundestag vertretenen Parteien schreiben sich an prominenter Stelle Forderungen zu Demokratie auf die Fahnen. Die SPD will mehr davon wagen und leben, die Grünen wollen sie ausbauen und stärken, die Linke will mehr davon, CDU und FDP wollen sie stärken und beleben und die AfD inszeniert sich als Partei für Direktdemokratie. Ihr Einzug ins Parlament bestätigt einmal mehr die These, dass die Idee direkterer Demokratie eben alles andere als ein Garant emanzipatorischer Politik ist. Wir sollten bei allem was wir tun und fordern also stets darauf achten, dass wir betonen, warum wir wofür kämpfen, um zu verhindern, dass unsere Ideen von konservativen oder faschistischen Gruppen übernommen werden können, die ziemlich exakt das Gegenteil dessen anstreben, wofür wir kämpfen.
Die »Zivilgesellschaft«
Initiativen für »mehr« oder »echtere« Demokratie präsentieren und inszenieren sich als mutige, fast schon revolutionäre Kämpfende gegen die eingefahrene Politik – wollen im Grunde aber nur andere Repräsentation. Kongresse mit Titeln wie »Demokratie braucht Bewegung« sind Ausdruck dieser Entwicklung. Wir, als Personen, die sich kompromisslos gegen jede Form der Demokratie aussprechen, haben dennoch dort geredet und wurden belächelt, weil unsere Positionen und Ziele eben nicht im Rahmen einer »besseren Demokratie« umsetzbar sind – für viele unvorstellbar, dass es etwas anderes geben könnte.
Die Bewegung:
Wir haben bei antikapitalistischen Kämpfen in Berlin Menschen erlebt, für die Handzeichen scheinbar der Inbegriff revolutionären Verhaltens darstellten. Für die die Methode der Kommunikation und Entscheidungsfindung absoluten Vorrang vor dem Ergebnis hatte. Für die es auch auf explizite Nachfrage gar kein Problem darstellte, dass die gewählte Form der Entscheidungsfindung faktisch eine permanente Blockade jeder Aktivität zur Folge hatte. Weil sie sich das erste Mal in ihrem Leben als einen wichtigen Teil eines Apparates begriffen und wir ihnen dieses Gefühl, endlich alles richtig zu machen, auf keinen Fall nehmen dürften. Wir taten es dennoch.
Wir haben versucht, uns mit den uns von den Gewaltfreien zugestandenen Methoden mit ihnen inhaltlich auseinanderzusetzen. Wir legten also bei einer Blockadeaktion wie formal vorgesehen gegen einen uns untragbar erscheinenden Vorschlag ein Veto ein. Wir mussten dann darüber diskutieren, ob es ein Veto gegen ein Veto geben kann und sollte.
Und wir haben erfahren, dass die Methoden immer nur so lange gelten, wie sie den Interessen der sie Bestimmenden nützen.
Wir haben uns bei Aktionsvorbereitungen gezielt an unterschiedlichen Positionen im Raum verteilt, sind im Vorfeld der G20-Gipfelproteste gezielt in bestimmte Arbeitsgruppen gegangen. Um Schlimmeres zu verhindern, Vielfalt zu ermöglichen, Kontrollbestrebungen möglichst von Anfang an zu verhindern, den Diskurs zu prägen. Aber wir haben dabei immer auch etwas über unser eigenes Machtpotential gelernt. Und es hat uns Angst gemacht. Weil wir begriffen haben, dass wir dieses Spiel auch spielen könnten, die Mechanismen begriffen haben, die Klaviatur bedienen könnten. Dass wir wissen, in welchen Momenten es auf die Formulierung der Fragestellung ankommt. Auf die Festlegung der Reihenfolge der Punkte einer Tagesordnung. Die Anfangszeiten eines Treffens. Und manchmal haben wir dann nicht nur Angst vor uns selber, sondern auch Ekel. Weil wir auf dem Weg zur Überwindung aller Herrschaft immer in Versuchung sind, das Stück vom Kuchen zu bevorzugen.
Die Debatte um Demokratiekritik begegnet uns jedoch nicht ausschließlich in den praktischen Kämpfen auf der Straße, sondern findet sich auch an der ein oder anderen Stelle in Theorietexten aus dem deutschsprachigen Raum. Zwei solche Veröffentlichungen wollen wir euch an dieser Stelle explizit ans Herz legen.
Das ist zum einen Christoph Spehr, der uns eindringlich davor warnt, zu Aliens zu werden mit seinem Buch Die Aliens sind unter uns. Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter. Was er mit dem Begriff des Alienismus dabei meint, ist das, was in »Die Kunst der Politik« als Kooptation beschrieben wurde: Die Gefahr, dass gerade die subversivsten Menschen, das System erneuern, stabilisieren, Herrschaft modernisieren statt sie abzuschaffen.
Als zweites empfehlen wollen wir das Buch Demokratie. Die Herrschaft des Volkes. Eine Abrechnung von Jörg Bergstedt. Es beschäftigt sich mit den Mythen der Demokratie, mit Wahlen, der Konstruktion eines Innen und Außen sowie Kollektiven, mit Ausschluss, Strafe und Kontrolle, wirft aber auch einen Blick auf Möglichkeiten der Befreiung.
[H für die bm-Crew]