Vorwärts!

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I. Normalität?

Menschen aus dem (schnell zerfallenden) „Mainstream“ der Gesellschaften Europas und der Vereinigten Staaten finden seltsamen Gefallen daran, sich im Vergleich zu Straftäter*innen, politisch Radikalen und anderen gesellschaftlichen Außenseiter*innen für „normal“ zu halten. Sie sehen diese „Normalität“ als Indikator für geistige Gesundheit und moralische Anständigkeit und begegnen den „anderen“ mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu. Wenn wir die Geschichte um Rat fragen, sehen wir allerdings, dass sich die Voraussetzungen und Muster des menschlichen Lebens in den letzten zwei Jahrhunderten so sehr verändert haben, dass es unmöglich ist, davon zu sprechen, irgendeine menschliche Lebensweise sei „normal“ oder die Lebensweise, an die wir uns über Generationen gewöhnt hätten. Von allen Lebensweisen, aus denen eine junge, im Westen aufgewachsene Frau heute wählen kann, gleicht keine ansatzweise denen, auf die ihre Vorfahren jahrhundertelang im Laufe der Evolution vorbereitet wurden.

Wahrscheinlicher ist es, dass die „Normalität“, der diese Menschen einen so hohen Stellenwert einräumen, nur das Gefühl von Normalität ist, welches wiederum aus der Anpassung an einen Standard beruht. Umgeben zu sein von anderen, die auf dieselbe Art handeln, die auf den gleichen Tagesablauf und die gleichen Erwartungen konditioniert sind, wirkt beruhigend, denn es festigt die Idee, dass mensch dem richtigen Weg folgt: Wenn viele Menschen dieselben Entscheidungen treffen und in Übereinstimmung mit denselben Sitten leben, müssen diese Entscheidungen und Sitten die richtigen sein.

Nur der bloße Umstand, dass eine Reihe von Leuten in einer gewissen Art und Weise handelt und lebt, macht es noch nicht wahrscheinlicher, dass diese Lebensweise jene ist, die ihnen die größte Freude beschert. Außerdem sind die mit dem amerikanischen und europäischen „Mainstream“ (falls so etwas wirklich existiert) verknüpften Lebensweisen nicht bewusst von denen, die diesen folgen, als die besten ausgewählt worden, sondern sie entstanden als Folge technologischer und kultureller Umwälzungen. Sobald die Menschen Europas, der Vereinigten Staaten und der Welt realisieren, dass in ihren „normalen Leben“ nichts notwendigerweise „normal“ ist, können sie damit beginnen, sich selbst die erste und wichtigste Frage des neuen Jahrhunderts zu stellen: Existieren Wege des Denkens, des Handelns und des Lebens, die zufriedenstellender und aufregender sind als die Wege, auf und nach denen wir heute denken, handeln und leben?

II. Transformation

Falls uns das angehäufte Wissen der westlichen Zivilisation an diesem Punkt etwas von Wert bieten kann, dann ist es die Erkenntnis, wie viel möglich ist, wenn menschliches Leben entsteht. Unsere ansonsten närrischen Gelehrten der Geschichte, der Soziologie und der Anthropologie können uns zumindest diese eine Sache zeigen: dass Menschen in Tausenden verschiedenen Gesellschaftsformen mit Zehntausenden anderen Werten, mit Zehntausenden unterschiedlichen Beziehungen zu sich selbst und zu ihrer Umwelt und mit Zehntausenden verschiedenen Vorstellungen des Selbst lebten. Ein wenig zu reisen, kann dir noch genau dies zeigen, zumindest wenn Coca-Cola nicht schneller war.

Deshalb kann ich es nicht vermeiden zu spotten, wenn sich eine*r im Zuge einer Entschuldigung für seine*ihre jämmerliche Ergebenheit in das uns erwartende Schicksal auf die „menschliche Natur“ beruft. Verstehst du nicht, dass wir gemeinsame Vorfahren mit dem Seeigel teilen? Wenn verschiedene Umweltbedingungen einige unserer Verwandten so sehr von uns entfernen konnten, wie leicht müssen da Veränderungen in uns selbst und in unseren unmittelbaren Beziehungen sein! Falls ein Mangel in unseren Leben existiert (und er existiert auf sehr, sehr schmerzliche Weise; die meisten werden zustimmen), dann brauchen wir all das – alles unnötigerweise Tragische oder Sinnlose im Leben, jeden Winkel der Freude, den wir noch nicht vollständig erkundet haben –, um unsere Umweltbedingungen dementsprechend umzugestalten. Es heißt: „Wenn du die Welt verändern willst, fange bei dir selbst an.“ Wir haben gelernt, dass das Gegenteil wahr ist.

Und es gibt noch eine wertvolle Entdeckung, die unsere Spezies gemacht hat, wenngleich auf die harte Weise: Wir sind in der Lage, unsere Umweltbedingungen komplett zu verändern. Der Ort, an dem du liegst, sitzt oder stehst und das hier liest, war vor hundert Jahren womöglich vollkommen anders, ganz zu schweigen von seinem Zustand vor zweitausend Jahren; und nahezu all diese Veränderungen wurden von Menschen vorgenommen. Wir haben unsere gesamte Welt in den letzten Jahrhunderten umgewälzt und das Leben für fast alle Tier- und Pflanzenarten verändert – für uns selbst am meisten. Was uns bleibt, ist, damit zu experimentieren, Veränderungen entsprechend unserer Bedürfnisse und unserer Sehnsüchte selbst vorsätzlich vorzunehmen (oder eben nicht vorzunehmen), anstatt sie unmenschlichen Kräften wie Wettbewerb, Aberglaube oder Routine zu überlassen.

Sobald wir dies verinnerlicht haben, können wir – individuell wie kollektiv – einen neuen Weg wählen. Wir werden nie mehr von Einflüssen außerhalb unserer Kontrolle durchgeschüttelt; stattdessen werden wir durch das Schaffen neuer Umgebungen uns selbst erkunden und lernen, was wir alles sein können. Dieser Pfad wird uns aus der Welt, wie wir sie kennen, hinaustragen – bis weit hinter die entferntesten Horizonte, die wir von hier erkennen können. Wir werden Künstler*innen werden – bedeutende Künstler*innen –, und Begierde wird unser Medium sein. Wir werden uns selbst willentlich erschaffen und neu gestalten – werden zu unserem Selbst, zu unserem Meisterwerk.

Um dies zu erreichen, werden wir lernen müssen, erfolgreich zusammen zu leben und zusammen zu arbeiten: um zu erkennen, wie verknüpft unsere Existenzen sind und sie dementsprechend zu gestalten. Bis dies möglich wird, wird nicht nur jedem von uns das enorme Potenzial unserer Gefährt*innen verborgen bleiben, sondern ebenso unser eigenes; bis wir alle zusammen die Welt erschaffen, in der jede*r leben muss und von der jede*r beeinflusst wird.

Die andere Sache, an der es uns mangelt, ist das Bewusstsein unserer eigenen Wünsche. Das Begehren ist eine schlüpfrige Sache, einer Amöbe ähnlich, schwierig zu fassen: und wir sind damit auf uns allein gestellt. Wenn wir auf dem Weg in eine andere Zukunft, unser Begehren erforschen und verändern, so müssen wir auch die gegenwärtigen Formen der Liebe und der Lust erforschen und verändern. Erfahrung und Risikobereitschaft alleine werden dafür nicht ausreichen. Die Schöpfer*innen der neuen Welt müssen sowohl selbstloser als auch gieriger sein als alles zuvor: selbstloser untereinander und gieriger nach dem Leben!

III. Utopia

Bereits jetzt kann ich die Frage auf deinen Lippen lesen: Ist das nicht utopisch?

Selbstverständlich ist es das. Weißt du, wovor jede*r am meisten Angst hat? Davor, dass all die Träume, die wir haben, all die verrückten Ideen und Hoffnungen, all die unmöglichen romantischen Sehnsüchte und utopischen Visionen wahr werden können. Davor, dass diese Welt unsere Wünsche erfüllen kann. Menschen verbringen ihr Leben damit, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um diese Möglichkeit abzuwehren: Sie machen sich aufgrund ihrer Unsicherheit selbst fertig, sabotieren ihre eigenen Anstrengungen, untergraben Liebesverhältnisse und nörgeln über saure Trauben, ohne diese gekostet zu haben…, denn keine Last könnte schwerer wiegen als die der Möglichkeit, dass alles, was wir wollen, möglich ist. Wenn dies der Wahrheit entspricht, dann steht in diesem Leben wirklich etwas auf dem Spiel: Dinge, die wirklich gewonnen oder verloren werden können. Nichts ist schmerzlicher, als zu scheitern, wenn der Erfolg im Bereich des Möglichen ist; daher setzten wir alles daran, nicht als Erste*r einen Versuch wagen zu müssen, daher vermeiden wir es, überhaupt einen Versuch zu wagen.

Für den Fall, dass auch nur die geringste Möglichkeit besteht, unsere tiefsten Sehnsüchte zu erfüllen, ist die einzige logische Konsequenz, uns vollends auf diese Jagd zu begeben und diesen Schmerz zu riskieren. Hoffnungslosigkeit und Nihilismus scheinen sicherer: Wir senden unsere Verzweiflung in den Kosmos, um uns dafür zu entschuldigen, dass wir den Versuch nicht wagen. So bleiben wir zurück: uns an unsere Resignation klammernd, so sicher wie eine Leiche im Sarg…, und dennoch bleibt diese furchtbare Möglichkeit bestehen. In unserem hoffnungslosen Flug aus der wahren Tragödie der Welt bauen wir so unsere eigene, falsche und zugleich unnötige Tragödie auf.

Vielleicht wird diese Welt niemals all unseren Bedürfnissen gerecht – Menschen werden sterben, bevor sie dazu bereit sind, perfekte Beziehungen werden in Trümmerhaufen und Abenteuer in Katastrophen enden, und schöne Augenblicke werden in Vergessenheit geraten. Aber was mein Herz zerbrechen lässt, ist die Art und Weise, auf die wir vor der unausweichlichen Wahrheit in die Arme von schrecklicheren Dingen fliehen. Es mag wahr sein, dass ein jeder Mensch in einem Universum verloren ist, wenn sich dieses fundamental von ihm unterscheidet – aber es darf nicht wahr sein, dass Menschen verhungern, während andere Nahrung zerstören oder fruchtbare Böden unbestellt lassen. Es darf nicht wahr sein, dass Männer und Frauen durch Arbeit ihr Leben wegschmeißen, nur um selbst über die Runden zu kommen und gleichzeitig die dumpfe Gier von ein paar reichen Männern zu stillen. Es darf nicht sein, dass wir es nicht wagen, von unseren Träumen zu erzählen, dass wir uns nicht aneinander teilhaben lassen, dass wir unsere Talente und Möglichkeiten nicht nutzen, um das Leben leichter zu machen. Das ist die unnötige Tragödie, eine dumme Tragödie, armselig und sinnlos. Es ist nicht mal utopisch zu fordern, dass wir so einer Farce ein Ende setzen.

Wenn wir uns selbst dazu bringen könnten, an die Möglichkeit zu glauben, ja, sie zu fühlen, dass wir unbesiegbar sind und dass wir alles, was wir von der Welt erwarten, auch bewerkstelligen können, dann schiene es nicht mehr unerreichbar, diese Absurditäten zu beenden. Worum ich euch bitte, ist nicht, an das Unmögliche zu glauben, sondern den Mut aufzubringen, euch dieser Möglichkeit zu stellen, die unser Leben in unsere eigenen Hände legt, und dementsprechend zu handeln: sich nicht mit jedem Elend zufrieden zu geben, das uns das Schicksal und die Menschheit eingebrockt haben, sondern zurückzuschlagen und zu sehen, welches Elend sich abschütteln lässt. Nichts wäre tragischer und lächerlicher, als ein ganzes Leben in Reichweite des Himmels zu verbringen, ohne auch nur einmal die Arme danach auszustrecken.

Auf deutsch erschienen in Message in a Bottle