WARUM WIR KEINE FORDERUNGEN STELLEN

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Von Occupy bis Ferguson: Immer wenn eine neue Graswurzelbewegung entsteht, bemängeln Expert*innen, das Fehlen klarer Forderungen. Warum fassen Protestierende ihre Ziele nicht zu einem einheitlichen Programm zusammen? Warum gibt’s da keine Vertreter*innen, die mit den Herrschenden verhandeln können, um konkrete Vorstellungen über institutionelle Wege voranzubringen? Warum können sich diese Bewegungen nicht in vertrauter Sprache und mit angemessenem Anstand ausdrücken?

Oft ist dies die hinterlistige Rhetorik derer, die sich von Bewegungen die Beschränkung auf gesittete Appelle wünschen. Wenn wir einen Plan verfolgen, den sie lieber nicht wahrhaben wollen, erklären sie diesen für irrational oder unschlüssig. Vergleiche den People‘s Climate March letzten Jahres, der 400.000 Personen hinter einer einfachen Botschaft vereinte und so wenig Protest mit sich brachte, dass die Polizei nicht mal eine einzige Person festnehmen musste, mit den Baltimore Riots ab April 2015. Viele priesen den Climate March, während sie die Aufstände in Baltimore als irrational, skrupellos und unwirksam verspotteten; der Climate March hatte jedoch wenig konkrete Auswirkungen, während die Aufstände in Baltimore die Staatsanwaltschaft dazu zwangen, eine beispiellose Menge von Polizist*innen anzuklagen. Du kannst dich darauf verlassen: Würden 400.000 Menschen auf den Klimawandel so reagieren, wie ein paar tausend auf den Mord an Freddie Gray, würden die Politiker*innen ihre Prioritäten anders setzen.

Selbst solche, die aus besten Absichten Forderungen fordern, missverstehen Forderungslosigkeit eher als ein Versäumnis, als eine strategische Entscheidung. Die heutigen forderungslosen Bewegungen sind kein Ausdruck politischer Unreife – sie sind pragmatische Antworten auf die Sackgasse, des gesamten politische Systems.

Wenn es so einfach für die Herrschenden wäre, den Forderungen der Protestierenden nachzukommen, könnte mensch meinen, wir würden mehr davon sehen. Von Obama bis Syriza, war es in der Realität jedoch nicht mal den größten Idealist*innen möglich, ihre Wahlversprechen einzuhalten. Der Fakt, dass nach den Baltimore Riots Freddie Grays Mörder*innen angeklagt wurden, legt nahe, dass die einzige Möglichkeit voranzukommen darin besteht, mit appellativer Politik endgültig zu brechen.

Das Problem ist nicht der Mangel an Forderungen heutiger Bewegungen; das Problem ist die Politik der Forderungen an sich. Wenn wir strukturellen Wandel wollen, sollten wir bei dem Spiel der Mächtigen, innerhalb des parlamentarischen Weges, nicht mitmachen. Wir sollten aufhören Forderungen vorzulegen und anfangen, Ziele zu setzen.

Forderungen zu stellen bringt dich in eine schwächere Verhandlungsposition.

Selbst wenn du nur vor hast, Forderungen zu stellen, begibst du dich in eine schwächere Verhandlungsposition, wenn du von Anfang an sagst, was das Mindeste ist, um dich zufrieden zu stellen. Kein*e geschickte*r Verhandelnde*r startet mit Zugeständnissen. Es ist klüger, unversöhnlich zu scheinen: Du willst dich also einigen? Mach einen Vorschlag. Währenddessen sind wir hier, blockieren wir die Bundesstraße und brennen etwas nieder.

Bei Verhandlungen gibt es kein besseres Druckmittel als die Möglichkeit, Dinge, nach denen wir uns sehnen, direkt an den offiziellen Institutionen vorbei zu realisieren – die wahre Bedeutung von Direkter Aktion. Wann immer uns das gelingt, reißen sich die Herrschenden darum uns alles anzubieten, was wir vorher vergeblich gefordert hatten. Der Schwangerschaftsabbruch in den USA wurde beispielsweise erst (durch die Gerichtsentscheidung im Fall Roe vs. Wade) legalisiert, nachdem Gruppen wie das Jane Collective mittels selbstorganisierter Kollektive zehntausenden Frauen bezahlbare Abbrüche ermöglicht hatten.

Selbstverständlich haben es jene, die die Veränderungen, nach denen sie sich sehnen direkt umzusetzen in der Lage sind nicht nötig, Forderungen an irgendwen zu stellen – und je schneller sie das erkennen, desto besser. Erinnert sei an Bosnien: Dort wurden im Februar 2014 Regierungsgebäude niedergebrannt und dann Versammlungen einberufen um Forderungen an die Regierung zu stellen. Ein Jahr später haben die Menschen für ihre Anstrengungen nichts bekommen außer Strafanzeigen und die Regierung war wiedermal stabil und korrupt wie immer.

Machen und nicht davon reden

Eine Bewegung auf spezifische Forderungen zu reduzieren, erstickt die Vielfalt und legt den Grundstein ihres Scheiterns.

Nach allgemeiner Auffassung braucht eine Bewegung Forderungen, um zusammenzuhalten: ohne Forderungen wäre sie diffus, flüchtig, ineffektiv.

Leute, die verschiedene Forderungen haben oder gar keine, können zusammen dennoch kollektive Macht aufbauen. Wenn wir Bewegungen als Räume des Austauschs, der Koordination und der Aktion begreifen, kann mensch sich leicht vorstellen, wie eine einzige Bewegung eine Vielzahl von Absichten fördern kann. Je horizontaler sie strukturiert ist, desto eher sollte sie in der Lage sein, vielfältige Ziele zu verfolgen.

Tatsächlich sind im Prinzip alle Bewegungen von internen Konflikten über ihre Strukturierung und die Priorisierung ihrer Ziele verdorben. Die Forderung nach Forderungen entsteht üblicherweise als ein Machtkampf von denen, die am meisten in die vorherrschenden Institutionen involviert sind, um jene zu delegitimieren, die sich lieber selbst ermächtigen wollen, als einfach Bitten an die Herrschenden zu stellen. Das verzerrt echte politische Differenzen als bloße Unorganisation und echte Opposition zu den herrschenden Strukturen als politische Naivität.

Eine vielfältige Bewegung zur Reduzierung ihrer Absichten auf wenige bestimmte Forderungen zu zwingen, festigt unweigerlich die Macht in den Händen einer Minderheit. Wer entscheidet, welche Forderungen wichtig sind? Meist sind es dieselben Personengruppen, die anderswo in der Gesellschaft überproportional über Macht verfügen: reiche, überwiegend weiße Professionelle, geübt im Umgang mit Institutionen und Massenmedien. Im Namen der Effizienz werden die Marginalisierten in ihren eigenen Bewegungen wieder an den Rand gedrängt.

Jedoch hat das kaum eine Bewegung je effektiver gemacht. Eine Bewegung mit Raum für Unterschiedlichkeiten kann wachsen; eine Bewegung, die auf Einheitlichkeit basiert, verkümmert. Eine Bewegung, die eine Vielfalt von Vorstellungen integriert, ist flexibel, unberechenbar; es ist schwer, sie zu täuschen, schwer, ihren Akteuren die Autonomie im Austausch gegen ein paar Zugeständnisse abzuringen. Eine Bewegung, die auf Einheitlichkeit durch Reduktion setzt. ist gezwungen, ständig Teile zu marginalisieren, indem sie deren Bedürfnisse und Anliegen unterordnet.

Eine Bewegung, die eine Vielzahl an Perspektiven und Kritiken umfasst, kann umfassendere und vielseitigere Strategien entwickeln, als eine auf einen Aspekt reduzierte Kampagne. Alle dazu zu zwingen sich einer Reihe von Forderungen anzuschließen ist strategisch unklug: selbst wenn es läuft, läuft es nicht.

Eine Bewegung auf spezifische Forderungen zu reduzieren, verkürzt ihre Lebensdauer.

In dieser sich immer schneller verändernden Welt, können Forderungen schon überholt sein, bevor die Kampagne richtig loslegt. Als Reaktion auf den Mord an Michael Brown forderten Reformist*innen, dass die Polizei mit Körperkameras ausgestattet wird – aber bevor diese Kampagne richtig am Laufen war, verkündete eine Grand Jury, dass Eric Garner, der Mörder von Michael Brown, nicht angeklagt wird, obwohl der Mord gefilmt wurde.

Eine Bewegung auf spezifische Forderungen zu beschränken, kann den falschen Anschein erwecken, es gäbe einfache Lösungen für Probleme, die tatsächlich äußerst komplex sind.

»OK, dich regt vieles auf – wem geht das nicht so? Aber sag uns, welche Lösung schlägst du vor?«

Die Forderung nach konkreten Einzelheiten ist verständlich. Es nützt nichts, einfach nur Dampf abzulassen; es kommt darauf an, die Welt zu verändern. Aber für bedeutende Veränderungen braucht es weit mehr als die unbedeutenden Korrekturen, die die Herrschenden leicht zugestehen würden. Wenn wir so tun, als gäbe es einfache Lösungen für die Probleme mit denen wir konfrontiert werden, um uns kein Stück weniger »pragmatisch« als die Expert*innen des Bestehenden zu geben, bereiten wir, unabhängig davon ob unsere Forderungen erfüllt werden oder nicht, den Weg für unser Scheitern. Das ruft Enttäuschung und Untätigkeit hervor, lange bevor wir das kollektive Vermögen entwickelt haben, uns der Wurzel des Problems zu widmen.

Speziell für jene unter uns, die glauben, dass das grundlegende Problem unserer Gesellschaft die ungleiche Verteilung von Macht und Einfluss ist – und weniger der Bedarf an dieser oder jener politischer Korrektur – ist es ein Fehler, im vergeblichen Versuch, uns zu legitimieren, einfache Heilmittel zu versprechen. Es ist nicht unsere Aufgabe fertiggestellte Lösungen zu präsentieren, für die die Massen am Rande applaudieren können; überlassen wir das den Demagogen. Unsere Herausforderung ist es vielmehr, Räume zu schaffen in denen Lösungen auf dauerhafter und kollektiver Basis diskutiert und direkt umgesetzt werden können. Anstatt Scheinlösungen vorzuschlagen, sollten wir neue Praktiken verbreiten. Wir brauchen keine Blaupausen, sondern eine Ausgangsbasis.

Bewegungen, die auf bestimmten Forderungen basieren, brechen zusammen sobald diese Forderungen von der Realität überholt wurden, während die Probleme, die sie angehen wollten, bestehen bleiben. Selbst aus einer reformistischen Perspektive ist es sinnvoller Bewegungen um die Themen die sie behandeln herum aufzubauen statt um bestimmte Lösungen.

Forderungen zu stellen, setzt voraus, dass du Dinge möchtest, die dein Gegner bewilligen kann.

Andererseits ist zweifelhaft, ob die vorherrschenden Institutionen das meiste von dem was wir wollen gewähren könnten, selbst wenn die Herrschenden Herzen aus Gold hätten. Keine Firmeninitiative wird den Klimawandel aufhalten; keine Regierungsbehörde wird die Überwachung der Bevölkerung stoppen; kein Polizeiapparat wird die Privilegierung Weißer beenden. Nur die Organisierenden von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) halten an der Illusion fest, dass diese Dinge möglich seien – wahrscheinlich, weil ihre Jobs davon abhängen.

Eine Bewegung, die stark genug ist, könnte industrieller Umweltzerstörung, staatlicher Überwachung und institutionalisierter weißer Vorherrschaft Schläge versetzen, aber nur wenn sie sich nicht auf bloßes Bittstellen beschränkt. Forderungsbasierte Politik beschränkt den ganzen Spielraum der Veränderung auf Reformen, die innerhalb der Logik der bestehenden Ordnung liegen, stellt uns an den Rand und verschiebt den wahren Wandel für immer in unerreichbar weite Ferne.

Es macht keinen Sinn, die Herrschenden um Dinge zu bitten, die sie selbst wenn sie wollten nicht gewähren können. Ebenso sollten wir ihnen nicht den Vorwand, liefern, sie müssten noch mehr Macht gewinnen, als sie ohnehin schon haben, um unsere Forderungen zu erfüllen.

Unsere einzige Forderung: legt euch nicht mit uns an!

Etwas von den Herrschenden zu fordern, legitimiert ihre Macht und zentralisiert Handlungsfähigkeit in ihren Händen.

Es ist eine alte Tradition für gemeinnützige Organisationen und linke Bündnisse Forderungen vorzulegen, von denen sie wissen, dass sie niemals bewilligt werden: Steuertricks stoppen, Geld für Menschen statt für Banken, Kohleausstieg jetzt, Finanzmärkte müssen sich an den Interessen der Ärmsten orientieren, Regenwaldabholzung stoppen. Im Austausch für kurze Audienzen mit Bürokrat*innen, die weit gerisseneren Akteur*innen Rede und Antwort stehen müssen, mildern sie ihre Forderungen ab und bringen ihre widerspenstigeren Kolleg*innen dazu, sich zu benehmen. Das ist, was sie Pragmatismus nennen.

Ein solches Vorgehen mag seinen eigentlichen Zweck nicht erreichen, aber eines vollbringt es doch: es festigt eine Erzählung, in der die existierenden Institutionen die einzig denkbaren Akteure einer Veränderung sind. Das wiederum pflastert den Weg für weitere ergebnislose Kampagnen, zusätzliche Wahlspektakel, in denen neue Kandidat*innen für ein Amt junge Idealist*innen täuschen, zusätzliche Jahre der Lähmung in denen die durchschnittliche Person sich nur durch die Vermittlung einer Partei oder Organisation vorstellen kann, selbst Macht auszuüben. Spul das Band zurück und spiel es nochmal ab.

Richtige Selbstbestimmung ist nichts, das uns die Herrschenden bewilligen können. Wir müssen sie entwickeln, indem wir unsere eigenen Stärken ausbauen und uns dabei als Akteur*innen der Geschichte in den Mittelpunkt der Erzählung stellen.

Forderungen zu früh zu stellen kann schon im Voraus den Spielraum einer Bewegung einschränken und das Feld der Möglichkeiten zerstören.

Am Anfang einer Bewegung, wenn die Teilnehmenden noch kein Gefühl von ihrem kollektiven Potential haben, ist ihnen möglicherweise noch nicht klar, wie durchdringend die Veränderungen, die sie wollen wirklich sind. Wenn in diesem Stadium Forderungen formuliert werden, kann dies die Bewegung hemmen, Ehrgeiz und Phantasie der Beteiligten einschränken. Zu Beginn der Beschränkung oder Verwässerung der Ziele den Vorzug zu geben erhöht außerdem die Wahrscheinlichkeit, dass dies wieder und wieder passiert.

Stell dir vor, die Occupy Bewegung in den USA hätte anfangs konkrete Forderungen gestellt – hätte sie dennoch als offener Raum gedient, in dem so viele Menschen sich treffen, ihre Analyse entwickeln und radikalisieren können? Oder hätte sie als ein einzelnes Protestcamp geendet, das sich nur mit der Kritik einzelner Konzerne, Sparmaßnahmen und vielleicht der Federal Reserve beschäftigt? Für die Ziele einer Bewegung ist es besser sich mit der Bewegung selbst zu entwickeln, proportional zu ihrer Stärke.

Forderungen zu stellen installiert Stellvertreter*innen und damit eine interne Hierarchie und gibt diesen einen Anreiz, andere Teilnehmende zu leiten.

In der Praxis bedeutet die Vereinigung einer Bewegung hinter spezifischen Forderungen üblicherweise, dass Sprecher*innen bestimmt werden, die im Namen der Bewegung verhandeln. Selbst wenn diese »demokratisch« aufgrund ihrer Hingabe und Erfahrung ausgwählt werden, können sie nicht verhindern, aus dieser Rolle heraus Interessen zu entwickeln, die sich von den der anderen Protagonist*innen unterschieden.

Um ihre Glaubwürdigkeit als Verhandelnde zu behaupten, müssen Sprecher*innen dazu in der Lage sein, jene, die ihre Vereinbarungen nicht mittragen, zu befrieden oder zu isolieren. Das gibt ehrgeizigen Führer*innen einen Anreiz zu zeigen, dass sie die Bewegung beherrschen können, in der Hoffnung am Verhandlungstisch zu landen. Gerade die mutigen Seelen, deren kompromisslose Aktionen der Bewegung ihren Einfluss erst verschafft haben, treffen nun auf Karriere-Aktivist*innen, die im Nachhinein dazu gestoßen sind und ihnen erzählen, was sie zu tun haben – oder verneinen gar ihre Zugehörigkeit zur Bewegung. Dieses Drama spielte sich in Ferguson im August 2014 ab, als Teile der dortigen Bevölkerung, die die Bewegung durch die Konfrontation mit der Polizei aufgebaut hatten, von Politiker*innen und Personen des öffentlichen Lebens verleumdet wurden – als Auswärtige, die die Bewegung ausnutzten, um kriminellen Aktivitäten nachzugehen. Das genaue Gegenteil war der Fall: Auswärtige versuchten, die Bewegung zu kapern, die durch ehrenhafte illegale Aktivitäten ausgelöst wurde, um die alten Institutionen der Autorität zu re-legitimieren.

Auf lange Sicht kann diese Art von Befriedung nur zum Niedergang einer Bewegung führen. Dies erklärt die zweideutige Beziehung, die die meisten Führer*innen zu den von ihnen repräsentierten Bewegungen haben: um für die Herrschenden von Nutzen zu sein, muss es ihnen möglich sein, ihre Mitstreiter*innen zu bändigen, aber ihr Dienst wäre überhaupt nicht nötig, wenn die Bewegung keine Bedrohung ausstrahlte. Daher kommt die merkwürdige Mixtur aus militanter Rhetorik und praktischer Behinderung, die solche Leute oft kennzeichnet: Ihre Hunde sollen bellen aber nicht beißen…

Manchmal ist das schlimmste, das einer Bewegung widerfahren kann, dass ihre Forderungen erfüllt werden.

Reformen sind da, um den Status quo zu stabilisieren und zu konservieren, um die Wucht einer sozialen Bewegung zu brechen und sicher zu stellen, dass durchdringender Wandel nicht stattfindet. Kleine Zugeständnisse zu gewähren kann dazu dienen, eine starke Bewegung zu spalten und die weniger engagierten Teilnehmenden zum Gehen oder zum wissentlichen Wegsehen bei der Repression gegen die Unbeugsamen zu bewegen. Solche kleinen Siege werden nur gewährt, weil die Herrschenden in ihr die beste Methode sehen, um größere Veränderungen zu vermeiden.

In Zeiten des Aufruhrs, wenn alles zu haben ist, ist ein Weg eine aufkeimende Revolte zu entschärfen, die Forderungen zu akzeptieren, bevor die Revolte Zeit hat zu eskalieren. Manchmal erscheint dies als ein wahrer Sieg – wie beispielsweise in Slowenien 2013, als zwei Monate des Protests die Regierung stürzten. Das hat die Unruhen beendet, bevor sie die systemischen Probleme, die weit tiefer gingen als die Frage, wer an der Macht ist, angehen konnten, von der sie hervorgerufen wurden. Eine andere Regierung kam an die Macht, während die Demonstrierenden noch von ihrem Erfolg benommen waren – und alles lief wieder wie bisher.

Während des Aufbaus der Revolution 2011 in Ägypten, hat Mubarak mehrfach angeboten, was die Demonstrierenden Tage zuvor forderten; aber als sich die Lage auf den Straßen zuspitzte, wurden die Beteiligten immer unversöhnlicher. Hätte Mubarak schon früher mehr geboten, wäre er möglicherweise noch heute an der Macht. Gewiss scheiterte die Revolution in Ägypten letztlich nicht, weil sie zu viel verlangte, sondern, weil die Veränderungen nicht tiefgehend genug waren: durch das Absetzen des Diktatoren bei unangetasteter Infrastruktur der Armee und des »Tiefen Staates« haben die Revolutionär*innen die Pforten für die Festigung der Macht neuer Despoten offen gelassen. Für eine erfolgreiche Revolution hätten sie die Struktur des Staates selbst zerstört haben müssen während jede*r noch auf den Straßen war und der Spielraum noch gegeben war. »Die Leute verlangen den Fall des Regimes« bot eine einfache Plattform um die sich viele scharten, aber bereitete sie nicht darauf vor, es mit den Regime die folgten aufzunehmen.

Es hat in Ägypten nur funktioniert, weil sie nicht nur gefordert haben

2013 in Brasilien half die MPL (Movimento Passe Livre) massive Proteste gegen die Anhebung der Fahrpreise in Bussen und Bahnen auszuweiten; das ist eines der wenigen aktuellen Beispiele einer Bewegung, die ihre Forderungen erfüllt bekam. Millionen nahmen sich die Straßen und die Erhöhung um 20 Cent wurde zurückgezogen. Aktivist*innen aus Brasilien schrieben und referierten über die Wichtigkeit, von konkreten und erreichbaren Forderungen, um durch Erfolge schrittweise zu wachsen. Als nächstes hofften sie, die Regierung dazu zu zwingen, die öffentliche Beförderung kostenlos zu machen.

Warum war ihre Kampagne gegen die Fahrpreiserhöhung erfolgreich? Zu dieser Zeit war Brasilien eine der wenigen Nationen, die einen Wirtschaftsaufschwung erlebten; es hat von der Weltwirtschaftskrise profitiert, indem Gelder aus dem instabilen nordamerikanischen Markt abgezogen wurden. Sonst wo – in Griechenland, Spanien und sogar den USA – standen die Regierungen genau wie die Anti-Austeritäts-Protestierenden mit dem Rücken zur Wand. Die Herrschenden konnten die Forderungen nicht erfüllen, selbst wenn sie gewollt hätten. Es lag nicht am Fehlen konkreter Forderungen, dass keine andere Bewegung solche Zugeständnisse erreichen konnte.

Kaum eineinhalb Jahre später, als die Straßen sich geleeert hatten und die Polizei ihre Macht wieder etabliert hatte, kündigte die Regierung eine weitere Welle von Fahrpreiserhöhungen an – diesmal drastischer. Die MPL musste von vorne anfangen. Das zeigt, dass der Kapitalismus nicht Reform für Reform überwunden werden kann.

Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen in Brasilien: konkrete Forderungen, aber ein Sisyphos-Kampf.

Wenn es dir um Zugeständnisse geht, peile über’s Ziel hinaus.

Selbst wenn du nur wenige kleine Korrekturen innerhalb des Status quo vornehmen möchtest, ist es eine klügere Strategie, strukturellen Wandel als Ziel zu setzen. Oft müssen wir weit höhere Ziele anvisieren, um kleine konkrete Anliegen zu erreichen. Die, die sich Kompromissen verweigern, konfrontieren die Herrschenden mit der lästigen Alternative, sich mit den Reformist*innen zu befassen. Irgendwer wird immer gewillt sein, die Rolle des Verhandelnden zu übernehmen – aber je mehr Menschen sich weigern, desto besser wird die Position der*s Verhandelnden*r werden. Das klassische Beispiel hierfür ist die Beziehung zwischen Martin Luther King, Jr. und Malcolm X: ohne die von Malcolm X erzeugte Bedrohung, hätten die Herrschenden keine derartige Motivation gehabt, mit Dr. King zu verhandeln.

Für jene unter uns, die einen wirklich radikalen Wandel möchten, ist nichts zu holen mit der Verwässerung unserer Sehnsüchte für die Öffentlichkeit. Das Overton-Fenster – der Bereich der Möglichkeiten, die politisch durchsetzbar erscheinen – wird nicht von denen im angeblichen Zentrum des politischen Spektrums bestimmt, sondern von den Außenseiter*innen. Je breiter das Feld der Positionen, desto mehr Handlungsspielraum tut sich auf. Andere werden sich dir wohl nicht sofort anschließen, wenn du eine Position am Rand beziehst, aber wenn andere sehen, dass du diese Position konsequent vertrittst, sind sie eher ermutigt, selbst ehrgeiziger zu handeln.

Rein pragmatisch ausgedrückt sind jene stärker, die eine Vielfalt an Taktiken begrüßen, selbst wenn es darauf ankommt kleinere Erfolge zu erreichen, als jene, die versuchen, sich und andere zu beschränken und jene auszuschließen, die sich weigern sich einschränken zu lassen. Aus der Perspektive einer Langzeitstrategie, ist das Wichtigste jedoch nicht, ob wir ein bestimmtes sofortiges Ergebnis erreichen, sondern wie jedes Gefecht uns für die nächste Runde positioniert. Wenn wir die Fragen, die wir wirklich stellen wollen, auf ewig zurückstellen, wird der richtige Moment niemals kommen. Wir müssen nicht nur Zugeständnisse erringen; wir müssen Fähigkeiten entwickeln.

Auf Forderungen zu verzichten bedeutet nicht, den Raum politischen Diskurses aufzugeben.

Das überzeugendste Argument für das Stellen von konkreten Forderungen ist vielleicht das: Wenn wir es nicht tun, werden andere sie aufgreifen – und den Impuls unserer Erhebung kapern, um deren eigene Ziele voran zu bringen. Was wäre wenn sich Leute um eine liberal-reformistische Plattform scharen oder, wie heute in vielen Teilen Europas, um rechte nationalistische Inhalte, weil wir es versäumen Forderungen zu stellen?

Deutlich veranschaulicht dies die Gefahr, damit zu scheitern, den Leuten mit denen wir die Straße teilen unsere Visionen von Veränderung nahe zu bringen. Es ist ein Fehler unsere Taktiken auszuweiten ohne über unsere Ziele zu reden, als würde jede Konfrontation unweigerlich in Richtung Befreiung tendieren. In der Ukraine, in der dieselben Spannungen und derselbe Impuls, die den Arabischen Frühling und Occupy in den USA produziert haben, eine nationalistische Revolution und einen Bürgerkrieg provoziert haben, sehen wir nun, wie selbst Faschist*innen unsere organisatorischen und taktischen Modelle für ihre eigenen Zwecke nutzen können.

Aber das ist kaum ein Argument, Forderungen an die Herrschenden zu stellen. Wenn wir unsere radikalen Wünsche dagegen immer aus Angst vor dem Verlust eines breiten Publikums hinter einer reformistischen Fassade verstecken, werden jene, die wahre Veränderungen wollen, in die Arme von denen rennen, die als einzige sichtbar den Status quo herausfordern: Nationalist*innen und Faschist*innen.

Wir müssen klar formulieren, was wir wollen und wie wir es erreichen wollen. Nicht um unsere Methoden allen aufzuzwängen, wie es Autoritäre tun, sondern um eine Möglichkeit und ein Beispiel für all jene zu bieten, die einen Weg voran suchen. Nicht um eine Forderung anzubieten, sondern weil dies das Gegenteil einer Forderung ist: Wir wollen Selbstbestimmung, etwas, das uns keine*r geben kann.

Graffiti in London (2012), welches einen Spruch aus dem Mai 1968 in Paris aufgreift

Wenn keine Forderungen, was dann?

Die Art, wie wir analysieren, uns organisieren und kämpfen – sie sollte für sich selbst sprechen. Sie sollte als Einladung dienen, sich uns anzuschließen auf eine andere Art, basierend auf Direkter Aktion statt Bittstellerei, Politik zu machen. Die Leute in Ferguson und Baltimore, die auf den Mord an Michael Brown und Freddie Gray reagierten, indem sie die Polizei angriffen, haben mehr Druck auf das Thema Polizeigewalt ausgeübt, als Jahrzehnte an Bitten um stärkere Überwachung der Polizei durch die Zivilgesellschaft. Indem wir uns Räume nehmen und Ressourcen umverteilen umgehen wir die sinnlose, umständliche Maschinerie der Repräsentation. Wenn wir schon eine Forderung an die Herrschenden richten, dann diese eine einfache: Legt euch nicht mit uns an.

Statt zu fordern sollten wir Ziele setzen. Der Unterschied ist, dass wir Ziele nach unseren eigenen Bedingungen setzen, in unserem eigenen Tempo, wenn sich Möglichkeiten bieten. Sie müssen nicht im Sinne der herrschenden Ordnung sein und ihre Realisierung hängt nicht vom Wohlwollen der Obrigkeit ab. Die Essenz des Reformismus ist, dass selbst, wenn du etwas gewinnst, du keine Kontrolle darüber behältst. Wir sollten die Macht entwickeln, nach unseren eigenen Bedingungen zu agieren, unabhängig von den Institutionen mit denen wir es aufnehmen. Das ist ein langfristiges Projekt, und ein dringendes.

Indem wir unsere Ziele verfolgen und erreichen entwickeln wir das Potential, uns höhere Ziele zu stecken. Das steht in starkem Kontrast dazu, wie reformistische Bewegungen in sich zusammen fallen, wenn ihre Forderungen verwirklicht oder als unrealistisch dargestellt wurden. Unsere Bewegungen werden stärker sein, wenn sie eine Vielzahl an Zielen unterbringen können, solange diese nicht offen widersprüchlich sind. Wenn wir unsere jeweiligen Ziele verstehen, können wir erkennen, wo es sinnvoll ist, zusammenzuarbeiten und wo nicht – eine Klarheit, die nicht entstünde, wenn wir uns mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner begnügten.

Aus diesem Blickwinkel ist der Weg, Forderungen nicht zu stellen, nicht unbedingt ein Zeichen politischer Unreife. Im Gegenteil, kann es eine kluge Weigerung sein , in die gleichen Fallen zu treten, die früheren Generationen die Handlungsfähigkeit raubten. Lasst uns unsere eigene Stärke außerhalb der Käfige und Warteschlangen der repräsentativen Politik erleben – jenseits der Politik der Forderungen.

Vielleicht liegt die Moral der Geschichte (und die Hoffnung der Welt) darin, was eine*r fordert, nicht von anderen, sondern von sich selbst.

– James Baldwin, No Name in the Street